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Ergebnis: Anti-Stigma-Studie

Zusammenfassung der Ergebnisse:

Aufgrund der geringen Rücklaufquote der Onlinefragebögen, die sich an die Angehörigen von Menschen mit psychischen Erkrankungen richteten, sowie der niedrigen Zahl an Teilnehmern, die ausschließlich "klassische" Selbsthilfeangebote nutzen, konnten hier leider keine gesonderten, statistisch überprüfbaren Aussagen getroffen werden. Von den Betroffenen beendeten hingegen 108 Teilnehmer die Befragung (Dauer durchschnittlich 27 Minuten), die Datensätze von 95 Teilnehmenden gingen schließlich in die weiteren Analysen ein. Insgesamt 55 dieser Teilnehmer gaben an, Onlineforen bzw. Online-Selbsthilfegruppen (OSHG) für Menschen mit psychischen Störungen zu nutzen. Die zentralen Forschungsfragen der Studie lauteten somit: (1) Lassen sich Hinweise auf Unterschiede zwischen OSHG-Nutzern und Nichtnutzern bzgl. des Umgangs mit Stigmatisierung sowie verschiedener weiterer Maße wie Lebensqualität, Empowerment und Stigma-Resistenz finden? (2) Wie lassen sich diese Zusammenhänge beschreiben, wenn potentiell konfundierende Variablen wie Depressivität berücksichtigt werden? (3) Wie werden soziale Unterstützung und Belastungen im Online-Setting (OSHG) im Vergleich zum Offline-Setting (Familie/Freunde/Partner) eingeschätzt? Nachfolgend werden zunächst die Ergebnisse der deskriptive Datenanalyse sowie der Nutzungsvariablen vorgestellt, anschließend die der Hypothesenprüfung.Die deskriptive Datenanalyse ergab, dass mit einem Geschlechterverhältnis von 4:1 deutlich mehr Frauen an der Studie teilnahmen. Das durchschnittliche Alter lag bei etwa 43 Jahren, das Bildungsniveau zeigte sich gegenüber der Gesamtbevölkerung leicht erhöht. 86 Teilnehmende gaben an, in der Vergangenheit mindestens eine Diagnose über eine psychische Erkrankung erhalten zu haben, wobei die meisten eine affektive Störung berichteten, gefolgt von neurotischen, Belastungs- oder somatoformen Störungen (überwiegend Angst- und Belastungsstörungen) und Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis. Weitere sechs Teilnehmende äußerten Verdachtsdiagnosen, hatten jedoch noch keine Diagnose bekommen. Nur drei gaben an, dass sie die Frage nicht beantworten möchten. Entgegen der ursprünglichen Annahme, dass OSHG vor allem auch von Personen genutzt werden, die keinerlei therapeutische Angebote wahrnehmen, gaben praktisch alle Teilnehmer der Studie an, bereits über Therapieerfahrungen zu verfügen. Dieses Ergebnis deutet auf eine ergänzende Funktion von OSHG hin.

Vorhergehende Studien legen nahe, dass die Aktivität bzw. Nutzungsintensität einen vermittelnden Faktor der Effektivität einer OSHG darstellt: Demnach profitieren nur aktive Nutzer und Nutzerinnen einer OSHG. Bisher liegen allerdings keine Konventionen vor, ab wann ein Nutzer als aktiv (poster) bzw. als passiv (lurker) einzustufen ist. Daher unterschied die vorliegende Studie nicht nur zwischen OSHG-Nutzern und Nichtnutzern, sondern erfragte die Aktivität der OSHG-Teilnehmenden detaillierter. Nur die Nutzer wurden als aktiv bewertet, die mindestens alle zwei Wochen die OSHG nutzen und dabei nicht nur rezipieren, sondern auch regelmäßig selbst Beiträge verfassen. Die Analyse der Nutzungsdaten lässt darauf schließen, dass das Onlineforum für viele der in der vorliegenden Arbeit befragten OSHG-Nutzer ein fester und wichtiger Bestandteil ihres Alltags zu sein scheint. Das Forum wird (1) langfristig (80 % seit über einem halben, 30% seit mehr als drei Jahren) und (2) intensiv (von über zwei Dritteln täglich) genutzt; (3) die überwiegende Mehrheit verfasst eigene Beiträge (mehr als sechs in der Woche) und scheint (4) eingebunden in das soziale Netz der Forenmitglieder zu sein (durchschnittlich vier regelmäßige Kontakte, drei Kontakte bereits "offline" getroffen). Zudem gaben (5) die Teilnehmenden mehrheitlich an, dass es ihnen wichtig sei, das Forum auch in Zukunft besuchen zu können.

Ausgehend von einem modifizierten Stress-Coping-Modell wurden zur statistischen Prüfung der Zusammenhänge zwischen Selbststigmatisierung, verschiedenen Bewältigungsstrategien und Empowerment, Lebensqualität sowie Stigma-Resistenz multiple Regressionen durchgeführt. Hier ergaben sich tatsächlich erste Hinweise auf Unterschiede zwischen OSHG-Nutzern und Nichtnutzern. Insbesondere zeigte sich, dass sich die Differenzierung von vermeidenden Bewältigungsstrategien (Geheimhaltung und Rückzug), die im Vergleich zu den aktiven Strategien (Andere aufklären und Konfrontieren) langfristig als weniger hilfreich betrachtet werden, in der Weise für das Online-Setting nicht aufrechterhalten lässt. Möglicherweise geht der Austausch und Rückzug in die Gruppe von Gleichbetroffenen bei OSHG-Nutzern weniger häufig mit sozialer Isolation einher als bei Nichtnutzern, da der OSHG-Nutzung eine kompensatorische Funktion zukommen könnte. Unbeantwortet bleibt die Frage, inwieweit diese Abweichungen auf spezifische Prozesse innerhalb der OSHG zurückzuführen sind oder Korrelate der Persönlichkeitseigenschaften oder Bewältigungsstile von aktiven OSHG-Nutzern als selbstselektierte Gruppe darstellen.

Weiter konnte gezeigt werden, dass sich Zusammenhänge zwischen Variablen der Stigmatisierung und des Umgangs mit Stigmatisierung sowie Empowerment, Lebensqualität und Stigma-Resistenz auch dann finden lassen, wenn Depressivität als potentiell konfundierende Variable berücksichtigt wird. Dies galt jedoch nicht für alle Zusammenhänge: Depressivität erwies sich in der Mehrheit der Analysen als stärkster und nicht selten als einzig signifikanter Prädiktor. Dieses Ergebnis führt zu der Feststellung, dass sich das sehr breite Konstrukt der Selbststigmatisierung inhaltlich wie methodisch nur schwer von verwandten Konstrukten trennen lässt.

Schließlich zeigte sich anhand des Vergleichs von sozialer Unterstützung im Online- vs. dem Offline-Setting mittels zweier gepaarter t-Tests, dass die positive Unterstützung in OSHG zwar etwas niedriger eingeschätzt wird als die durch das persönliche Umfeld (d = 0.46), die Interaktionen in OSHG aber auch als wesentlich weniger belastend wahrgenommen werden (d = 1.5). Dies könnte zur Klärung der Frage beitragen, warum OSHG insbesondere für Menschen, die sich aufgrund einer psychischen Störung mit Stigmatisierung konfrontiert sehen, eine so hohe Anziehungskraft besitzen.

An dieser Stelle sei auch auf die Limitierungen der Studie hingewiesen. Mit Blick auf die Erhebungsmethode sind dies zum einen bewusste oder unbewusste Verzerrungen, die sich im Rahmen von Selbstauskünften ergeben. Zudem ist die Generalisierbarkeit der Ergebnisse eingeschränkt, da aufgrund der Selbstselektion der Teilnehmer und der Stichprobengröße keine Repräsentativität angenommen werden kann. Hieraus ergibt sich ein möglicher Ansatzpunkt für künftige Forschungsbemühungen, insbesondere auch hinsichtlich der Angehörigen von Menschen mit psychischen Störungen und Nutzern klassischer Selbsthilfegruppen. Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass das korrelative Design der Querschnittsstudie keine Kausalitätsschlüsse erlaubt.

Somit kann festgehalten werden, dass OSHG eine äußerst niedrigschwellige und im Hinblick auf Stigmatisierung weitgehend risikoarme Plattform für Menschen mit psychischen Störungen darzustellen scheinen, die unverbindlich soziale Unterstützung durch Gleichbetroffene und Informationen bezüglich ihrer Erkrankung suchen. Hinsichtlich des Umgangs mit Stigmatisierung fanden sich Hinweise auf spezifische Abweichungen für das Online-Setting, die womöglich teilweise auf einen kompensatorischen Effekt einer OSHG-Nutzung zurückgeführt werden können. Es ließen sich keine Hinweise auf negative Effekte einer OSHG-Nutzung feststellen. Allerdings wurde in allen teilnehmenden OSHG auf die Einhaltung von Forenregeln geachtet, beispielsweise bezüglich der Äußerung schädlicher Gedanken und Verhaltensweisen. Die Ergebnisse lassen sich folglich nicht auf extreme Communities wie z.B. pro-ana-Foren übertragen. Die Studie unterstreicht die Notwendigkeit einer stärkeren Berücksichtigung dieser Online-Angebote durch das therapeutische Fachpersonal sowie einer diesbezüglichen Expertise hinsichtlich der besonderen Potentiale und Risiken der computervermittelten Kommunikation. Die Ergebnisse liefern zudem zahlreiche Ansatzpunkte für weiterführende Studien. Überdies gilt es, Konzepte zu entwickeln, die den weiteren Ausbau internetbasierter Selbsthilfe sowie die Förderung bestehender OSHG vorsehen, um so bestehende Engpässe in der Gesundheitsversorgung zu überbrücken. Diese sollten Online-Selbsthilfe nicht als Ersatz für die bestehende, "klassische" Selbsthilfelandschaft und therapeutischen Behandlungsangeboten auffassen, sondern als Ergänzung.

Abschließend möchte ich noch einmal allen Teilnehmern und Teilnehmerinnen für ihre Zeit und Ausdauer danken. Ohne Sie wäre die Arbeit nicht möglich gewesen.

Stine Jelitto

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